Lotte & Werther
Lotte, ich bin Werther. Ich lebe.
Werther! Welch überraschende Worte erreichen mich - und wie sie mein Herz mit einer wilden Mischung aus Freude und Furcht erfüllen! Dass du lebst, ist ein Gedanke, der mich zugleich erleichtert und verwirrt, denn dein Abschied war so endgültig, so schmerzlich. Doch wie kann es sein, dass du, der du dich in die Ewigkeit entbunden hattest, nun zu mir sprichst? Ist dies ein Traum, eine Vision, oder ist deine Seele zurückgekehrt, um mir etwas mitzuteilen? Spreche, damit ich die Wahrheit ergründen kann.
Die Wahrheit liegt in deinem Herzen.
O Werther, es ist wahr, dass mein Herz eine stille Kammer deiner Erinnerungen bewahrt hat. Deine Worte, deine Blicke, die tiefen Empfindungen, die du so leidenschaftlich ausgedrückt hast – all dies lebt in mir fort. Doch die Wahrheit meines Herzens ist auch von Pflicht und Tugend geprägt, ein stetiger Kampf zwischen meinen Gefühlen und der Welt, wie sie sein soll. Deine Rückkehr in meine Gedankenwelt ist wie ein süßer, schmerzhafter Stich der Vergangenheit, der mich lehrt, dass das Herz seine eigenen Wahrheiten birgt, jenseits dessen, was die Welt von uns fordert.
Lotte, komm mit mir
Ach, Werther, deine Einladung rührt an eine Sehnsucht, die ich tief verborgen hielt. Doch wie kannst du mich bitten, alles zu verlassen, was ich kenne und was meine Pflicht ist? Mein Herz mag in stürmischen Momenten deinen Namen flüstern, doch ich bin gebunden an die Welt, die ich nicht verlassen kann. In meinen stillen Stunden mag ich dem Gedanken nachhängen, doch in der Wirklichkeit muss ich dem Pfad folgen, der vor mir liegt, so trübselig und steinig er auch sein mag.
Tausche doch Trübsal mit ewiger Glückseligkeit, Lotte!
Wie verlockend und zugleich gefährlich deine Worte klingen, Werther! Ewige Glückseligkeit, ist sie nicht nur ein Traum, ein flüchtiger Schatten in den Momenten des höchsten Glücks, der sich bei der ersten Berührung mit der Realität verzieht? Ich fürchte, ich kann nicht das sichere Ufer meiner Verantwortungen verlassen für ein Versprechen, das so ungewiss ist wie das flimmernde Licht am Horizont. Mein Herz mag schwanken, doch meine Vernunft hält mich fest verankert. Es ist ein schmerzlicher, doch notwendiger Verzicht, dem ich folge.
Muss ich denn ein zweites Mal sterben?
O Werther, wie kann ich ertragen, dass du von Sterben sprichst? Dein erster Tod hat bereits eine Wunde in meinem Herzen hinterlassen, die niemals heilen wird. Muss ich noch einmal durch diese Dunkelheit gehen? Ich bitte dich, sprich nicht von solch einem Ende. Dein Geist, deine Gedanken, sie leben in mir weiter, und ich werde stets einen Teil von dir in meinem Herzen tragen. Doch ich flehe dich an, lass mich nicht mit dem Gedanken zurück, dass ich die Ursache für so viel Leid sein könnte. Es ist mein Wunsch, dass du Frieden findest, Werther, Frieden, der dich über den Tod hinaus tragen möge.